Unterwegs in Anatolien
Tagebucheintrag vom 4. Juni 2007
Glück gehabt
Schon bei der Abfahrt sieht der Himmel verhangen aus. Trotzdem entscheiden wir uns für den Aufbruch. Denn wir wollen nicht zu spät in Syrien angekommen. Es ist ein bisschen wie das Spiel mit dem Feuer. Verlässt du die Stadt, sollte es nach Möglichkeit für die nächsten fünfzig Kilometer bis zum nächsten Ort, der Schutz bietet, nicht regnen. Ansonsten wird man bis auf die Knochen durchnässt. Das Anlegen von Regenkleidung wollen wir vermeiden, weil es sehr lang dauert. Außerdem macht es mich unbeweglich und daher auch mürrisch. Mit dieser Ausgangslage pesen wir über die Landstraße, der Himmel über uns ist tief dunkelbraun. Es muss sich um Sand aus der syrischen Wüste handeln. Unsere Visiere setzen sich mit einer Sandschicht zu. Wir säubern sie mit dem Erfolg, dass fünf Minuten später alles wieder genauso verschmutzt war wie zuvor. Nur der Regen bleibt noch aus. Ich finde dieses Naturphänomen so spannend, dass ich mehrmals anhalte, um spektakuläre Bilder zu machen. Hinter uns droht braun das Sandregengewitter, vor uns am Horizont leuchtet ein weißer, heller Himmel. Viel Zeit bleibt mir jedoch nicht, denn mein Motorrad und ich sind jetzt schon recht schmutzig. Wenn es richtig losgehen sollte, gibt es keine Rettung mehr für Kleidung und Maschine. Also: volles Tempo voraus!
Pech gehabt
Ein streng aussehender Polizist winkt mich an den Straßenrand. 133 Kilometer pro Stunde anstatt der erlaubten 70 soll ich gefahren sein. Dafür verlangt er umgerechnet 100 Euro Strafgebühr. Ich versuche ihm zu erklären, dass ich auf der Flucht vor dem Unwetter bin – keine Chance. Er zieht meinen Pass und Führerschein ein. Ich fühle mich handlungsunfähig, fast ohnmächtig. Sollte dies meine erste Niederlage gegen eine ausländische Polizeistreife werden? Bisher ist es mir immer geglückt, durch viel Gerede die drakonischen Strafen abzuwenden. Ein zweiter Polizist kommt hinzu. Er fragt mich nach meinem Beruf. Die Frage ist schon mehrfach an mich gerichtet worden. Eigentlich weiß ich nicht, was ich antworten soll. Weltreisender? Ist das ein Beruf? In meiner Not gebe ich vor, Journalist zu sein, der eine Reportage über die Türkei schreibt. Dazu wedle ich mit meinem Presseausweis vor seiner Nase herum. Ein Wunder geschieht: Plötzlich wird er ganz freundlich und lässt mich ziehen. Er wollte wohl nicht, dass ich die Türkei im Ausland in Misskredit bringe. Natürlich freue ich mich riesig, nur möchte ich dies nicht vor ihm zeigen. Das wäre ihm gegenüber nicht besonders höflich.
Ankunft in Kahta
Beschwingt fahren wir weiter zum Zielort. Wir laufen Mitten in Anatolien in Kahta ein, dem Ausgangspunkt zum Berg Nemrut. Die Hotelsuche beginnt. Heute ist mein Mitfahrer Theo mit der Beschaffung einer Unterkunft dran. Er handelt mit dem Hotelbesitzer einen guten Preis aus. Die „guten“ Konditionen haben wir bekommen, weil wir auf unserer Weltreise auch Hilfsprojekte besuchen. Der Hotelbesitzer kommt nach draußen zu mir ans Motorrad. Wir fragen ihn, wo man hier im Ort einkaufen und essen gehen kann und wo es ein Internetcafé gibt. Und ich kann mir den Witz nicht verkneifen: Wo es Frauen gibt. Danach werde ich von Theo getadelt. Solch einen Witz könne man nicht machen, wenn man sich als „ Charity-Engel“ vorstellt. Ich vertrete den Standpunkt, dass der Bursche schon ganz andere Dinge in seinem Hotel zu hören bekommen hat. Mit diesen Meinungsdifferenzen entschwinden wir zum Abendessen. Danach buche ich beim Hotelbesitzer einen Ausflug zum Nemrut. Nach der Bezahlung fragt er mich, ob ich nicht mit zur nächsten Stadt kommen möchte. Er fährt heute Abend ins Bordell und ich bin eingeladen. Ich lehne dankend ab, kann mich innerlich aber vor Lachen kaum noch halten.
Auf dem Nemrut
Nachts um drei Uhr geht es zum Nemrut. Auf dem Berg stehen mythische Skulpturen. Wir reihen uns ein in das touristische Standardprogramm: Wir werden auf den Berg gekarrt, um dann mit hunderten anderen den Sonnenaufgang „genießen“ zu können. Zweifelsohne – der Sonnenaufgang ist wunderschön, doch Genuss sieht für mich anders aus. Ich sitze lieber auf einem weniger imposanten Berg ganz für mich allein, oder mit der Frau meines Herzens.
Teehausgeschichten
Nach der Rückkehr beschließen wir, einen weiteren Tag in Kahta zu bleiben, da Theo eine starke Magen- und Darmverstimmung hat. Ein wenig ungeeignet, um im Freien zu zelten. Für mich soll der Ruhetag zu einem Glücksfall werden. Kaum zehn Schritte vom Hotel entfernt stolpere ich in ein Teehaus. Es liegt an einem kleinen Platz direkt neben der Hauptverkehrsstraße. Dort kann ich das tun, was ich am liebsten den ganzen Tag machen würde: Menschen beobachten. Meiner Meinung nach ist ein Teehaus eine prima Einrichtung. Der Tee ist für jedermann erschwinglich, und Leute die sich keinen leisten können, bekommen einen geschenkt. Hier spielt sich das soziale Leben ab. Nur schade, dass Frauen daran noch nicht teilhaben können. Ich sehe nur Männer, die sich hier ihre Zeit vertreiben. Neben mir sitzt ein achtzigjähriger zahnloser Mann mit einem türkischen Käppi. Er hat stahlblaue Augen und lacht mich immerzu freundlich an. Wir können uns nicht verständigen, aber ich merke wie er sich über meine Anwesenheit freut.
Milchkaffee und Sackhosen
Es wird mir ein übersüßter Nescafé mit Milch serviert. Ich bin froh, dass sie hier mal wieder Milch haben. Auf dem Land haben sie häufig keine Milch vorrätig, weil sie keine Kühlmöglichkeiten haben und die Milch darum schnell schlecht wird. Kaffee ohne Milch ist für mich ungenießbar, dann lieber keinen Kaffee. Genüsslich schlürfe ich an der Tasse. Mein Blick schweift in die Runde. Mir fallen die traditionellen kurdischen Sackhosen, Salwar genannt, der älteren Männer auf. Mir gefällt diese traditionelle Kleidung. Wenn ich in zehn Jahren hierher zurückkehre sollte, wird es diese Hosen wohl nicht mehr geben. Die Türkei gleicht sich in rasendem Tempo dem Westen an. Jüngere Generationen tragen lieber Jeans. Ein bisschen Wehmut schwingt mit.
Domino als Generationenbrücke
Ich wechsle meinen Sitzplatz und geselle mich zu vier Männern, die Domino spielen: zwei Jüngere, ein Mann mittleren Alters und der „Chef“. Der Chef hat ca. 75 Jahre auf dem Buckel. Ich nenne ihn so, weil er der mit Abstand beste Spieler am Tisch ist. Die Dominosteine sind aus Metall und messen gerade mal 0,5 x 1, 5 cm. Sie werden ähnlich wie Spielkarten in die offene Handfläche gelegt. Das Spiel geht los, die Steine werden nacheinander auf den Tisch geknallt. Jetzt weiß ich, warum sie aus Metall sind. Jeder Spielzug ist unüberhörbar. Der Besitzer des Teehauses hat schon mal vorsorglich eine Schutzplatte auf den Tisch gelegt. Aber das Knallen gehört nun mal zum Spiel dazu. Der „Chef“ geht natürlich als Sieger vom Platz. Er freut sich wie ein Kind und schreibt akribisch den Punktestand für seine Mitstreiter auf. Ich muss leider gehen. Zu gern hätte ich den Dorfbewohnern noch einige Stunden zugeschaut. Beim Anblick dieser Menschen überkommt mich ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit.