Künstlerkolonie Worpswede
Das Dorf im Teufelsmoor
Wer kennt sie nicht, die legendäre niedersächsische Künstlerkolonie Worpswede? Einst ein abgelegener Ort auf der Landkarte und von einer Handvoll Maler wach geküsst, erliegen bis heute Kunstschaffende und Kunstliebhaber dem Charme von Dorf und Landschaft.
Leise brummend löst sich die Ützepogg vom Anleger der Adolphsdorfer Torfschiffer und tuckert aus dem kleinen Hafen auf das dunkle Wasser der Hamme hinaus. Der Mast fürs Segel liegt noch abgeknickt zwischen den Knien der Ausflügler, wenn der schwarze Eichenholzkahn mit dem plattdeutschen Namen für „Moorfrosch“ seine Reise in die geschützte Welt der Flussniederung beginnt. Mitten durchs Teufelsmoor, das bis vor gut 270 Jahren noch das Gesicht einer lebensfeindlichen Landschaft trug.
„Damals wollte Georg II., Kurfürst von Hannover, dieses Gebiet vor den Toren Bremens urbar machen“, weiß Skipper Manfred Sievers. Versprechen wie Steuerfreiheit und die Aussicht auf Land lockten ab 1750 Tausende Siedler in das rund 500 Quadratkilometer große Moor, das es über Gräben und Kanäle trocken zu legen galt. Mit ihnen kam der Landvermesser Jürgen Christian Findorff, der den Kolonisten zeigte, wie es ging, und Dörfer gründete. Die Bürger der ersten Stunde hatten’s schwer. Der Boden taugte nicht wirklich für Ackerbau oder Viehzucht. Und die meisten verdienten ihr Geld mühsam mit dem Stechen von Torf, den man auf Kähnen nach Bremen schaffte. Stakend, segelnd, über Treidelpfade ziehend.
„Unsere Schiffe von heute sind nach alten Plänen gebaut“, erinnert Sievers, während er hinter der Klappbrücke in Hafennähe den Motor stoppt und das Segel setzt. Der Wind bläht das braune Tuch und schiebt den Torfkahn langsam über das moorige Nass. Vorbei an der historischen Hammehütte Neu Helgoland, einst Warenumschlagplatz, jetzt gefragtes Ausflugslokal. Wo es bei warmem Wetter auf der Terrasse schnell eng wird, wenn es zu Schnitzel oder Matjes mit Bratkartoffeln den schönsten Sonnenuntergang weit und breit frei Haus gibt.
Die Ützepogg gleitet weiter flussabwärts, und nur das Rufen der Vögel dringt ein in dieses Reich der Stille. Dabei liefert die Hamme den Fahrgästen ein Bild vollkommenen Friedens, wie sie sich müßig durchs Grünland schält, ihre Ränder übersät von Teichrosen, über denen schillernde Libellenkörper tanzen.
Auch wenn die Landschaft des Teufelsmoors jetzt eine andere ist als die der Vergangenheit, versteht man die Faszination, die sie für die Künstler hatte, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts kamen. Aber das ist eine andere Geschichte. Und sie beginnt nicht hier, sondern einen Steinwurf entfernt. In Worpswede, in der Findorffstraße Nr. 10, wo der Ortsvorsteher Stolte einen Kaufmannsladen betrieb. Seine Tochter war es, die die ersten Maler ins Moor lockte. Zu Besuch bei der Tante in Düsseldorf, lernte sie dort 1884 deren Logisgast Fritz Mackensen kennen. Mimis Schwärmerei vom Dorf und seiner Natur trug schnell Früchte, denn noch im selben Sommer folgte der Kunststudent der Einladung der jungen Frau nach Worpswede. Und war begeistert. Von der Landschaft mit ihrem weiten Horizont, von der Ruhe, von der Natürlichkeit des bäuerlichen Lebens. Und vom Malen im Freien.
Die Sehnsucht nach der romantisierten Idylle ließ den Akademiestudenten wiederkommen. Zusammen mit seinen Freunden Otto Modersohn und Hans am Ende. 1889 beschlossen die drei Maler, auf Dauer zu bleiben. Die Worpsweder Künstlerkolonie, zu der sich später noch Fritz Overbeck und Heinrich Vogeler gesellen sollten, war geboren.
Heute ist das Dorf im Teufelsmoor, bereits im Mittelalter von ein paar wenigen Siedlern gegründet und bis zu Findorffs Moorkolonisation ein einsamer Fleck auf der Landkarte, weltberühmt. Und wunderschön ist es auch. Eingefasst von Wiesen und Weiden wirkt es wie eine Parklandschaft mit viel schattigem Grün, in dem backsteinrote Höfe und Häuser mit blühfreudigen Gärten wie Edelsteine glänzen. Die Werke von Künstlern schmücken den öffentlichen Raum und lassen keinen Zweifel an Worpswedes Prominenz als Künstlerdorf. Ebenso wie die Vielzahl an Museen. Darunter das Modersohn-Haus in der Hembergstraße. Ein gelber Bau, klein und einfach, mit einem Rosenspalier vor der Tür. Wo nach ihrer Hochzeit mit Otto Modersohn für wenige Jahre Paula Modersohn-Becker lebte, die lange verkannte Malerin, die später alle überstrahlen sollte. Heute zeigt das einstige Zuhause des Künstlerpaars neben Fotos und Gemälden von beiden auch originale Einrichtungsgegenstände wie Paulas Schreibtisch und den aus Paris mitgebrachten Hirtenteppich. Indes widmet sich der moderne Anbau den „Großen Fünf“ und stellt Werke von Mackensen, Modersohn, am Ende, Overbeck, Vogeler aus.
Überall im Dorf mit seinen Galerien und Ateliers trifft man auf die Spuren dieser ersten Künstlergeneration. Auf Orte und Örtlichkeiten, verbunden durch Historie und Histörchen. Wie die Zionskirche auf dem Weyerberg, verschlungen von der Melancholie des Friedhofs, auf dem bedeutende Maler, Kunsthandwerker, Musiker und Schriftsteller begraben liegen. Auch Paula Modersohn-Becker, die mit nur 31 Jahren starb, ist unter ihnen. Ihre letzte Ruhestätte bedeckt vom kalten Stein eines Grabmals. Um wie viel lebendiger sind da doch ihre Malereien im schlichten Kircheninneren. „Paula und ihre Freundin, die Bildhauerin Clara Westhoff, hatten aus Übermut die Kirchenglocken geläutet und damit einen Feueralarm ausgelöst“, erzählt Gästeführerin Mira Awad. Da die Zwei mittellose Kunstschülerinnen und nicht in der Lage waren, für ihr Vergehen die geforderte Geldbuße zu begleichen, wurde ihnen eine Strafarbeit aufgebrummt: Während die eine mehrere Engelsköpfe modellierte, die ihren Platz unter der Emporendecke fanden, malte die andere bunte Blumenmotive darunter.
Das frühere Wohnhaus von Hans am Ende wurde Hotel, Paulas „Lilienatelier“ auf dem Hof vom Bauern Brünjes Ferienwohnung. Und auch der Barkenhoff in der Nachbarschaft des Ateliers fand eine andere, museale Bestimmung. Ein weiß gestrichener Backsteinbau mit Biedermeiergiebel und geschwungener Freitreppe, unter der sich der Garten ausbreitet – mit knorrigen Bäumen und niedrigen Hecken, in deren Rund Staudenblüten Insekten locken. Kein Vergleich zu der alten Bauernkate, die Heinrich Vogeler 1895 kaufte und zu einem kunstvollen Wohn- und Atelierhaus machte, in dem über Jahre befreundete Künstler ein- und ausgingen.
Die Gegenwart hat Worpswedes Attraktivität für Kunstschaffende nicht geschmälert. 140 Künstler und Kunsthandwerker leben und arbeiten hier. Viele kann man in ihren Ateliers besuchen. So wie Gisela Eufe, die sich in einer umgebauten Scheune in der Bauernreihe mit ihrem Mann Bernd Altenstein eine Bildhauerwerkstatt teilt. Oder wie die Keramikerin Ingrid Ripke-Bolinius, die an der Töpferscheibe zarte Gefäße aus Porzellan kreiert.
Auch in der Findorffstraße 10 lässt sich Kunst bestaunen und erwerben. Aus dem Laden von Ortsvorsteher Stolte wurde „Mimis Erbe“, ein Kunstkaufhaus, in dem man ohne Berührungsängste stöbern kann. Ein Teil davon ist Galerie mit wechselnden Ausstellungen, der Rest Verkaufsfläche. Mit Bildern und Objekten von über 50 Künstlern, deren Arbeiten die Wände schmücken und, sorgsam verpackt, in den geöffneten Schubladen großer Kommoden stecken. Zu bezahlen an der betagten Registrierkasse, die einmal Mimi Stoltes Vater gehörte.
Text und Fotos: Sabine Mattern
Informationen
Unterkunft
Hotel Buchenhof: früheres Wohnhaus von Hans am Ende, das seine Gäste im Stil der Jahrhundertwende empfängt, www.hotel-buchenhof.de
Essen und Trinken
Restaurant Worpsweder Bahnhof: Jugendstilambiente trifft moderne deutsche Küche in dem von Heinrich Vogeler entworfenen Gebäude, www.restaurant-worpsweder-bahnhof.de
Künstlerauswahl
Mimis Erbe, www.mimis-erbe.com
Keramikerin Ingrid Ripke-Bolinius, www.ripke-bolinius-keramik.de
Bildhauerin Gisela Eufe, www.bildhauerin-worpswede.de
Torfkahnfahrten
Adolphsdorfer Torfschiffer: von Mai bis Anfang Oktober regelmäßige Rundfahrten auf der Hamme, Termine und Buchung unter www.torfschiffe.de
Weitere Infos
www.worpswede-touristik.de